āWinter-Stilleā ā eine Horchwanderung
von S. Domogalla
Auch wenn die letzten Tage hell, voll Sonne und blauem VorfrĆ¼hlingshimmel gewesen waren und in den klaren, kalten NƤchten der zunehmende Mond das Tal in seiner ganzen Weite ausgeleuchtet hatte, entschlossen sich ausgerechnet heute Morgen dicke Wolken die unteren HƤnge des Prato Magno als Ruhebank zu benutzen und den ganzen Tag dort zu verweilen. Sie Ć¼berzogen alles mit ihrem gleichmachenden Grau und sorgten zusammen mit der KƤlte dafĆ¼r, dass jeder, der einen warmen Holzofen im Haus hatte, sich gern zu diesem setzte, um ihm zuzuhƶren und sich zu freuen, dass er von diesem warmen Posten aus in die gedƤmpfte, kalte Welt hinausschauen konnte.
Die KƤlte sorgte auch dafĆ¼r, dass die Wolke nicht lƤnger nur Wolke blieb, sondern sich als feiner Nieselregen auf alles niederliess. Wolfgang war mit seiner Hand Ć¼ber die Aussenseite der TĆ¼r des OfenhƤuschens gefahren und hatte mich gebeten, ihm zu sagen, was das Hygrometer seiner Wetterstation anzeigte: āWeiĆt du, ich mƶchte mir das merken und dann an dieser TĆ¼r fĆ¼hlen und einschƤtzen, wie hoch die Luftfeuchtigkeit ist.āĀ ā68 Prozentā ā in seiner Hand floss das Kondenswasser von der TĆ¼r zu Tropfen zusammen.
Heute Abend sollte eine Horchwanderung durch die Stille des Winters sein. FĆ¼r den Fall, dass der Nebel sich zu handfesten RegengĆ¼ssen auswachsen sollte, bereitete Wolfgang fĆ¼r alle Unerschrockenen, die es dennoch wagen wollten, ein Indoor-Alternativprogramm mit den āStimmen des Waldesā vor.
Bis 19:00 Uhr hatte der Nieselregen nicht weiter zugenommen und obwohl am Nachmittag drei der Teilnehmer abgesagt hatten, waren wir schliesslich fĆ¼nf Entschlossene, die sich auf dem Vorplatz der alten Kirche von Quorle trafen, um sich wohl ausgerĆ¼stet mit guten Wanderstiefeln, wasserdichter Kleidung und Regenschirmen in Nacht und Nebel hinauszuwagen.
Wolfgangs FĆ¼hrhund Dusty, der nicht mehr so gut zu Fuss ist und auch schnell ausser Atem kommt, war zu Hause geblieben. Wolfgang hatte einen Wanderstock mitgenommen. Er fĆ¼hrte unsere kleine Gruppe auf der geschotterten Fahrstrasse den Berg hinauf.
Es war sehr still. Unsere Schritte auf dem Schotterweg, kurze geflĆ¼sterte Unterhaltungen, vereinzelte Tropfen im Blattwerk der BƤume und hin und wieder auf den Regenschirmen, das rhythmisch melodische āTock-tockā von Wolfgangs Wanderstock, ā nur in unserer unmittelbaren NƤhe gab es GerƤusche. Die Ferne schien nicht mehr vorhanden zu sein. Als der Weg ins freie Feld fĆ¼hrte, war auch das TropfgerƤusch auf den BlƤttern nicht mehr zu hƶren.
Nach einer Abzweigung nach rechts, der Weg war ein StĆ¼ck weit leicht bergab gegangen, bat Wolfgang uns, ihm zu sagen, ob im Tal etwas zu sehen sei. TatsƤchlich leuchteten weit unten aus der milchig weissen Nebelsuppe einige grƶssere Lichter, aber kein Laut drang zu uns herauf. Dies seien die Lichter von Poppi, klƤrte er uns auf. Irgend woher hƶrte man nun sehr gedƤmpft ein Auto das Tal hinauffahren. Das dumpfe FahrgerƤusch verlor sich bald wieder, ohne dass wir hƤtten orten kƶnnen, wo genau es herkam.
Wir gingen weiter den Schotterweg entlang. āHier links geht der Weg durch die Wiese,ā sagte Wolfgang nach einer Weile. Er wollte zum Landhaus am Poggio al Vento. Die Abzweigung war fĆ¼r uns jedoch schwer zu erkennen. Bei klarem Wetter ist der Himmel in der Nacht dunkel. Man sieht die Sterne und den Mond, in deren Licht man dann zwar nicht farbig aber doch in einer gewissen Tiefe GegenstƤnde erkennen und Entfernungen abschƤtzen kann. Durch den zunehmenden Mond, der irgendwo hinter dem Nebel stand, war es wie wenn der Himmel in einem gleichmƤĆig diffusen Licht leuchtete. Wo man etwas in die Tiefe sehen konnte, zeigten sich die blattlosen BƤume und BĆ¼sche vor dem hellen Himmel wie verschwommene Scherenschnitte. Die Konturen von Gras und Untergrund waren nur in unmittelbarer NƤhe und nur verschwommen erkennbar.
Da kam ein GesprƤch Ć¼ber Tierstimmen in Gang: Elisa erzƤhlte, wie sie einem Reh begegnet war, das sie verƤrgert angeblƶkt hatte. āSchreckenā ist der jƤgersprachliche Ausdruck fĆ¼r diese Art von Tierschrei. Er bezieht sich jedoch eher auf die Reaktion des Tiers, als dass er den Laut, etwas zwischen Bellen und Blƶken, beschreibt. Vor Jahren war Wolfgang einmal hier in der NƤhe mit seinem Hund Quasco spƤt abends auf dem Heimweg gewesen. Er selbst war mĆ¼de und deshalb nicht so aufmerksam und auch Quasco drƤngte es nach Hause. Plƶtzlich sei er gegen ein eigenartiges Etwas geprallt, was ihm im Weg stand. Nachdem erst einmal alle drei grĆ¼ndlich erschrocken waren, hƤtte sich das āEtwasā durch sein verƤrgertes Blƶken als Reh zu erkennen gegeben. Es hatte wohl dort gestanden und gedƶst. Nun zog es vor, nach dieser sonderbaren Begegnung den Weg zu rƤumen.
Wir gingen weiter durch die Stille Ć¼ber den schmaler werdenden Wiesenweg, der uns schliesslich in den Wald hinein fĆ¼hrte. Wo wir gerade waren, wusste sicher Wolfgang am Besten, denn er hat den Weg āin seinen FĆ¼ssenā ā er riecht ihn sogar. So machte er uns an einer Lichtung im Wald auf das dĆ¼nne Minzearoma aufmerksam, das von einigen winterlich bescheidenen Wasserminzepflanzen am Wegrand ausging.
Als wir aus dem Wald heraus in eine mit BĆ¼schen bewachsene Umgebung kamen, hƶrten wir es vom vor uns liegenden HĆ¼gel bellen: mehrere Hunde schlugen an. Dazwischen einer, mit einer seltsam tiefen Stimme, die am Ende nach oben zog. Der hat nur zwei-, dreimal kurz gebellt, dann hƶrt man nur noch die anderen. Wir blieben stehen. War das Ć¼berhaupt ein Hund? Ein Fuchs war es jedenfalls nicht, die haben eine viel hƶhere Stimme und ihr Bellen hƶrt sich wie ein heiseres Keifen an. Wir horchten weiter, aber der Tiefstimmige tat uns nicht den Gefallen, nochmals zu bellen. Die anderen machten dafĆ¼r den Eindruck, als wollten sie sich gar nicht beruhigen. So standen wir eine ganze Weile, aber ausser einem einzelnen Kauz aus der Richtung, aus der wir kamen, einem Flugzeug und den Hofhunden war nichts mehr zu hƶren. Wolfgang meinte, der mit der tiefen Stimme kƶnnte ein Wolf gewesen sein. Erst am Vortag hatte er einen Wolf aus der Richtung von Loscove gehƶrt.
Wir warteten und Wolfgang erzƤhlte Ć¼ber verschiedene Tierstimmen, die man im Wald belauschen kann. Die Tiere kƶnnen mit ihren Stimmen ganz verschiedene Signale geben. So gibt es beispielsweise bei Wildschweinpopulationen Lock ā und Warnlaute, Laute, die Wohlbefinden oder Aufregung ausdrĆ¼cken und Ƥhnliches. DarĆ¼ber hinaus haben die Schweinegruppen sogar so etwas wie verschiedene Dialekte, an denen Mitglieder eines Rudels oder einer Familie einander erkennen kƶnnen.
Tierlaute werden zuweilen von Menschen auch falsch gedeutet. So sind zum Beispiel die Klopflaute von Spechten nur zu einer bestimmten Jahreszeit zu hƶren, weil sie nƤmlich nicht, wie weitverbreitet geglaubt, daher kommen, dass der Specht bei der Nahrungssuche Insekten zum Fressen aus der Baumrinde meiĆelt, sondern weil sich der Specht balzenderweise als Percussionist betƤtigt.
Wir hƶrten jedoch keine Spechte und auch der Kauz, fĆ¼r dessen Balzen nun eigentlich die richtige Zeit gewesen wƤre, hatte aufgehƶrt zu rufen.
Wolfgang erzƤhlte, dass es hier in den Gebirgs-TƤlern auch Wetterlagen gƤbe, bei denen man sehr weit hƶren kƶnne. GerƤusche aus groĆen Entfernungen, die man bei normaler Schƶnwetterlage nicht hƶrt, wƤren dann plƶtzlich hƶrbar und schwierig zuzuordnen. Bei Inversionswetterlage sei es so mƶglich, dass man beispielsweise meint, ganz nah eine Eisenbahn abfahren zu hƶren, die in Wirklichkeit in einem kilometerweit entfernten Tal davonfƤhrt.
Das kommt so: normalerweise nimmt die Lufttemperatur mit zunehmender Hƶhe ab. Die Luft, die sich Ć¼ber die Sonneneinstrahlung am Boden erwƤrmt, steigt auf und bewirkt, weil die kalte Luft gleichzeitig nach unten sinkt, einen vertikalen Luftaustausch. Im Winter kann es jedoch in gebirgigen Landschaften vorkommen, dass sich in den TƤlern kalte Luft am Boden hƤlt, wƤhrend sich warme Luftschichten darĆ¼ber legen. Dadurch wird besonders in den Gebirgs-TƤlern ein Luftaustausch nach oben verhindert, denn die kalte Luft von unten kann nicht aufsteigen, weil die warme Luftschicht wie ein Brett darĆ¼ber liegt. Unter diesem āBrettā aus wƤrmerer Luft kommt es dann, neben erhƶhter Smoggefahr an PlƤtzen mit hoher Emission, zu folgendem akustischen PhƤnomen: der Schall wird von der Luftschicht reflektiert und wie ein Echo auf die Erde zurĆ¼ckgeworfen. Inversionswetterlagen erkennt man aus der Ferne zuweilen an flachen Wolken, die nach unten gerade wie ein Lineal abgegrenzt sind und sich nach oben hin wie ein Schleier verflĆ¼chtigen.
Wir Ć¼berlegen, ob man den Nebel hƶren kann ā vielleicht indirekt: alles klingt gedƤmpfter, leiser und verschwommen.
Unser Weg fĆ¼hrte uns weiter vorbei am Landhaus. Auch hier hƶrten wir Hundebellen. Das war Smilla, eine kleine HĆ¼ndin von einem einsamen Hof einige Kilometer entfernt im wenig besiedelten Tal hinter dem Poggio al Vento. Wolfgang kennt sie an der Stimme. Warum sie wohl gebellt hat? Wegen uns oder war es wegen des Wolfes?
Am Landhaus vorbei wurden die vereinzelten sachten Tropfen auf den Regenschirmen immer mehr. SchlieĆlich ging ihr GerƤusch in ein dauerndes leises Klirren Ć¼ber, wie wenn Tausende winzige, hauchdĆ¼nne aber harte Glasscheibchen vom Regenschirm abprallten: Eisregen.
Wir beeilten uns auf den RĆ¼ckweg zu kommen. Auf einem breiten, aber unbefestigten Weg gingen wir den Berg hinauf. Aus dem fest getretenen Boden dieser Piste hatten SturzbƤche frĆ¼herer Unwetter kleine Spalten und PfĆ¼tzen ausgeschwemmt. Sie waren nun mit einer dĆ¼nnen Eisschicht bedeckt, die, wenn aus Versehen jemand darauf trat, mit einem trockenen Krachen zerbarsten.
Je weiter wir den Berg hinauf kamen, um so sandiger wurde der Boden. SchlieĆlich fĆ¼hrte uns Wolfgang auf einen nahezu eben verlaufenden Weg. In unmittelbarer NƤhe des Weges gab es nur trockenes Gras, GebĆ¼sch und einige niedere BƤume zu erkennen. Der Wald schien sich zu lichten, doch plƶtzlich nahmen auch wir den intensiven Geruch der Pinien wahr, die vom Nebel versteckt wohl irgendwo an unserem Weg standen.
Wolfgang fĆ¼hrte uns mit detaillierter Ortskenntnis weiter in einen bald dichter werdenden Wald ā ein Laubwald, wie uns der sƤuerliche Geruch der verrottenden BlƤtter verriet.
Rechtzeitig kĆ¼ndigte unser Scout die nƤchsten Weggabelungen an. Als wir schlieĆlich aus dem Wald heraus ans Casa Nova kamen, waren wir doch froh, die richtigen Wege genommen zu haben. Wir gƶnnten uns eine Gedenkminute am Casa Nova: in diesem Haus wohnte Wolfgang, als er das allererste Mal in diese Gegend kam.
Bald fĆ¼hrte uns die Schotterstrasse wieder zu der Stelle, von der wir auf den Wiesenweg abgebogen waren. Auf dem nun schon bekannten Weg haben wir nicht mehr weit nach Quorle. Dort in der warmen KĆ¼che wurden wir vom frƶhlich schwanzwedelnden Dusty begrĆ¼Ćt. Gut gelaunt bei einem wohltuend wƤrmenden GewĆ¼rzwein und Guetsi, lieĆen wir die Wanderung durch die klamme Winterstille ausklingen.