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Spiel- und Musiktherapie mit geburts- und frühtraumatisierten Kindern | Wolfgang Fasser
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Spiel- und Musiktherapie mit geburts- und frühtraumatisierten Kindern

Wolfgang Fasser*

Auszug aus: Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen, Heft Nr. 4

 

Mit den Kindern geht das Vorgeben von Situationen, die Beobachtung, was sie daraus machen, und die daraus folgende Weiterentwicklung des Ansatzes Hand in Hand, gemeinsam zu wachsen

Zusammenfassung

Der folgende Text soll Einblick geben in die kreative Spiel- und Musiktherapie mit geburts- und frühtraumatisierten Kindern. Begegnen, spielen und fördern sind die Grundessenz des therapeutischen Vorgehens und ermöglichen ein kindgerechtes Aufarbeiten der Traumata. Konzeptionelle und therapeutische Aspekte werden reflektiert und an einem Fallbeispiel die Praxis aufgezeigt.

* Wolfgang Fasser (geb. 1955) ist im Alter von 22 Jahren erblindet. „Mein Leben ist nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare ausgerichtet“, sagt Wolfgang Fasser.„Es ist nicht mein Ziel, wie ein Sehender zu leben. Ich möchte so sein, wie ich bin.“ (CREDO XIV, 2012, S. 4) Seine Arbeit wurde im preisgekrönten Film „Nel Giardino dei Suoni“/„Im Garten der Klänge“ dokumentiert. „Meine Blindheit ermöglicht auch in der Therapie spezifische Wege. Die üblichen Schemen der Begegnung werden in gewisser Weise aufgelöst; auch der Andere muss Kontakt suchen und sich auf eine andere Welt einlassen.“ 

 

Einleitung

Musiktherapie ist eine besondere Form der Kunsttherapie; ein Weg, bei dem innerhalb der therapeutischen Beziehung und für das therapeutische Arbeiten Musik ein zentraler Bestandteil darstellt. Musik ist dabei ein Medium; sie steht nicht nur für sich selbst, sondern vor allem im Dienste des therapeuti- schen Geschehens. Entsprechend kann alles, was zum Musikspielen und Musikhören ver- wendet wird, Bestandteil der Therapie sein. Musik wird so in einem weiteren Sinne verstanden und eingesetzt.

Musiktherapie kann sich dann (zum einen) sowohl im Sinne eines komplementär psycho- therapeutischen Verfahrens ereignen als auch (zum anderen) im Sinne einer medizinischen funktionell orientierten, rehabilitativen Praxis: Musiktherapie wirkt zum einen im Bereich des Gesangs und der Sprache, der Emotionen und psychologisch psychischer Prozesse, der Wahrnehmung und der Erinnerung. So kann ein Song aus alten Zeiten bei Alzheimer-Patienten Ressourcen anregen. Begegnungen mit einem Instrument können zu einem symbolischen Spiel werden und etwa ein Sich-Ausbreiten oder Sich-Gehör-Verschaffen ausgestalten. Zum anderen kann Musik etwa ein rhythmisch neurologisches Angebot für Parkinson Patienten darstellen oder als therapeutisch intendiertes instrumentales Spielen von Blasinstrumenten bei Atempatienten wirksam werden.

Das hier vorgestellte Therapiekonzept gestaltet sich multimodal: Modi wie Körperarbeit und Psychotherapie, Bewegung, symbolisches Spiel und Musik werden in einem begegnungszentrierten und beziehungsgetragenen Setting miteinander verbunden. In seinem konkreten Tun richtet sich der The- rapeut dabei nach den je aktuellen Anliegen und Interessen des Patienten und nach den Geschehnissen in der Therapie: Analysebasierte, „therapeutische Einfälle“ in einem erlebnisorientierten Arbeiten ermöglichen und tragen dabei eine personalisierte, dynamische Art und Weise der therapeutischen Begegnung. Sie eröffnen damit ungeplante Möglichkeiten und Schritte der therapeutischen Veränderung.

In einem multimodalen Therapiesetting werden übliche Schemata der Begegnung und des Miteinander-Agierens in musiktherapeutischer, nonverbaler Weise aufgelöst und neu entwickelt. Aus diesem Geschehnis heraus entfalten sich neue Erlebnisse und Phänomene. Im therapeutischen Setting kann so die subjektive innere Realität des Patienten zu einer geteilten, hörbaren und spürbaren Realität werden.

Das kindliche Spielen in der Musiktherapie

Situationen, in denen sich die Musikinstrumente verwandeln und zu Schwertern, Burgen, Pferden und Personen werden, gehören zum Alltag meiner Kindermusiktherapien. Es ist auffallend, wie Kinder primär mit den Instrumenten spielen und nicht auf ihnen. Der freie Umgang, das heißt auch weit ab von der vorgesehenen Spielweise, ist leicht für die meisten Kinder im Alter von 2 bis 11 Jahren. Ältere Kinder betrachten diesen direkten Zugang nicht mehr als ihre Ausdrucksweise und ziehen das Spielen auf den Instrumenten vor. Sie möchten lernen, wie man ein Instrument „richtig“ spielt und wie man „richtig“ Musik macht.

Es ist typisch für das freie Spiel in der Kindermusiktherapie, dass szenische Darstellung, Rollen- und Bewegungsspiele, Wort und Musik ein Ganzes sind. Die „Musik“ ist untrennbarer Bestandteil des improvisatorischen Geschehens. Die Kinder kommen nicht in das Atelier, um „bloß“ zu musizieren, sie kommen hierher, um mir zu begegnen und mit mir etwas zu gestalten und zu erleben. Sie möchten ihre Geschichten und Themen darstellen und die hiesige Welt erkunden. Diese Tatsache war und ist nach wie vor eine Herausforderung für mich als „Musiktherapeut“. Es taucht unweigerlich die Frage auf: Ist es noch Musiktherapie, wenn wir uns phasenweise gar nicht mehr mit Musik beschäftigen? Sollen die Kinder Musizieren in der Musiktherapie? Wo sind die Grenzen zwischen Spiel- und Musiktherapie?

Die Tatsache jedoch, dass wir es mit Kindern zu tun haben, wirkt lösend. Der Zugang soll ja kindgerecht sein und sich nicht am Festhalten an methodischen Definitionen orientieren. Das Modell der „integrativen Musiktherapie“, formuliert von Frohne-Hagemann (1990), sieht konzeptionell vor, dass das Medium Musik, Spiel, Tanz, Gespräch und andere kreative Ausdrucksformen sich abwechseln können, um den Kontakt mit dem Kind aufrecht zu erhalten. Die Beziehung, der Dialog steht dabei im Mittelpunkt des Interesses und ist einem monmethodischen Verfahren übergeordnet.

Auch in anderen Modellen der Kindermusiktherapie sind kombinatorische Verfahren zu finden. Ein wegweisender Ausspruch für diese integrative Vision in der Kindermusiktherapie kam von Winnicott (1985): „Das Spielen in der Therapie soll spontan sein, nicht angepasst oder gefügig, wenn Psychotherapie gelingen soll“. Die kindliche, szenische Darstellung ist von großer Ausdruckskraft. Darin einbezogen zu sein ist oft herausfordernd, ja sogar provozierend für mich als Erwachsener.

Meine eigenen Unfähigkeiten und Hemmungen dabei wahrzunehmen, hilft mir, tieferen Einblick in das Transfer-Kontratransfer-Geschehen zu bekommen und der Mehrschichtigkeit des Spiels gewahr zu werden. Ebenso dient dieser Prozess der Erweiterung meiner Improvisationsfreude und -freiheit. Dieses ständige Weiten meiner spontanen gestalterischen Fähigkeiten geht einher mit dem ständig präsenten pädagogischen Ansatz, den ich durch Jacoby zu schätzen lernte: Dieser gilt sowohl für das Kind als auch für mich. nämlich die alltägliche Förderung von

  • der Bereitschaft zur Erfahrung
  • der Bereitschaft zur Aktion
  • der Bereitschaft zur Improvisation
  • der Bereitschaft zur Leistung.

Sowohl das direkte Spiel, geprägt von affektiven und sensomotorischen Elementen, als auch das symbolische Spiel spricht alle Sinne an. Dieses sinnliche Erleben und Gestalten der Kindergeschichten, deren Strukturierung und das schlussendliche Verstehen ist eines der Anliegen der Kinder. Durch die Szene entsprechende Medien und Hilfsmittel kann ich als Musiktherapeut den „kleinen Protagonisten“ dabei unterstützen. In der Schatzkammer des Ateliers gibt es Vielerlei: Puppen, Plüschtiere, Seile, Schalen, Schachteln, ein Arztkoffer etc. Wo möglich begleite ich das Tun des Kindes mit musiktherapeutischen Elementen:

  • improvisatorisches vokales und instrumentelles Begleiten,
  • verbales Kommentieren,
  • im Augenblick erfundene Lieder,
  • atmosphärisch oder thematisch intonierte Musik ab Tonträger.

Im freien Spiel wechseln sich Momente ab, in denen ich als Person Mitbeteiligter bin oder zur Umgebung gehöre. Diese Übergänge können mehrere Male während einer Stunde wechseln, und ich versuche, diese „vorsichtig“ wahrzunehmen. In Therapien, wo das Thema Kontakt, Interaktion und Dialog im Vordergrund stehen, ist die Entwicklung dieser beiden Involvierungsmodalitäten von diagnostischer und therapeutischer Bedeutung und wird auch als Kontrollparameter beobachtet.

Was kann es bedeuten, keine Musik zu machen? Diese Frage ist eine typische Erwachsenenfrage. Meine Kinder kümmern sich nicht darum. Für sie ist die Musik und das Musizieren ein integrierter Bestandteil. Der Frage nachgehend fand ich folgende mögliche Antworten. Nicht-Musizieren dient der:

  • Nähe-Distanz-Regulierung: Das gemeinsame Spiel kann bedrohliche Nähe oder die daraus folgende Trennung bedeuten und wird deshalb vermieden.
  • Ablehnung des elterlichen Wunsches, das Kind sollte musizieren: Das Kind zeigt somit an, dass es seine eigenen Vorhaben in der Therapie realisieren will, das heißt Autonomie.
  • Ablehnung von kreativen und musikalischen Vorgaben: Das Kind will ganzheitlich spielen und sich ausdrücken und reagiert auf einen zu engen Rahmen. Es möchte seine Gesamtkomposition kreieren.
  • Gutartige Regression: Diese hilft auf ein Niveau zurück zu kommen, in dem durch das „Nachnähren“ Defizite aufgeholt werden können und die authentischen Bedürfnisse gestillt werden.
  • Regression im Sinne des Widerstandes und der Abwehr um aktuellen Konflikten und Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen: Vermeiden des voreiligen Interpretierens des Phänomens des „Nicht-Musizierens“ zeigte sich mir jedoch als äußerst dienlich, konnte ich doch in vielen dieser Situationen nachträglich dem Erlebten einen positiven Sinn geben und die Bedeutung innerhalb des Prozesses erkennen. 

Was fordert die Musiktherapie mit Kindern von mir als Therapeut? Das „Nicht-Musizieren“ ist ebenfalls eine Herausforderung der Musiktherapeuten-Identität. Diese, wie schon vorher angedeutet, bringt uns in der Kindermusiktherapie auf die Gleichbewertung von Spiel und Musik – eine unvermeidliche Korrektur des beruflichen Selbstverständnisses. Der aktive Einbezug fordert uns darüber hinaus auf, therapeutisch anwesend zu sein und emotionell zu Verfügung zu stehen, bereit zu sein, szenisch mitzuspielen, musiktherapeutisch und mit dem Wort, das Tun des Kindes zu kommentieren und zu reagieren. Diese Erwartungen an mich selbst bedeuten eine tägliche Schule und die Annahme meines eigenen Wachstums.

Das Austragen der sich ständig wandelnden beruflichen Identität und der produktiven Unsicherheit in jeder therapeutischen Begegnung eröffnen so einen notwendigen Raum der persönlichen und beruflichen Entwicklung. Gerade mit den Kindern geht das Vorgeben von Situationen, die Beobachtung, was sie daraus machen, und die daraus folgende Weiterentwicklung des Ansatzes Hand in Hand, gemeinsam wachsen.

Wie sieht das in der Praxis aus?

Der kleine Luca sitzt neben Dusty, meinem Führhund, am Boden und lässt sich von ihm behutsam seine Hände lecken. Er schaut ganz gespannt auf die lange Zunge des Hundes und zeigt mir dann mit einer Berührung an, dass ich Dusty’s Maul öffnen soll. Ich nehme achtsam seinen „Fang“, öffne ihn und Dusty lässt sich ohne weiteres ins Maul schauen. Große Zähne sind zu sehen, die Zunge und die Lefzen. Interessiert schaut Luca hinein und amüsiert sich. „Was es doch nicht alles gibt!“ Wir lachen, und Dusty klopft dazu mit dem Schwanz auf den Boden. Der 4-jährige muntere Knabe klatscht dazu in seine Hände.

So beginnen zur Zeit unsere gemeinsamen Musiktherapiestunden. Luca kann noch nicht sprechen, ist überaktiv und konnte sich bis vor kurzem nur ganz wenige Augenblicke auf etwas konzentrieren – er erlitt ein Ge- burtstrauma. Seit er Dusty und mich hier im Musiktherapieatelier kennenlernte, hat sich seine Unruhe verändert. Das initiale Spielen mit unzähligen Gegenständen, sich herumwerfen und wild durch alle Räume springen, ohne sich auf uns einzulassen, machte dem interessierten Spiel mit uns Platz. In diesem Klima können wir nun gemeinsam und spielerisch die Welt der Klänge, des Körpers und der Instrumente entdecken.

Die Wahrnehmung des Mund-Rachen- Raumes ist grundlegend für die kindliche Sprachentwicklung. Luca musste wiederholt in seinen ersten Monaten intubiert werden und war bis anhin sehr empfindlich im Mund- und Rachenraum. So ist nun, via Dusty, Luca’s Aufmerksamkeit auf den Mund gestoßen. In lustigen Spielen erkunden wir das „Sprechwerkzeug“. Was wir bei Dusty so groß sahen, findet er nun bei sich, der Mutter und auch bei mir. Dieses „Aha-Erlebnis“ führte zum Durchbruch seiner eigenen Stimme. Aus der präverbalen Welt tauchen nun die ersten Worte auf: Mama, Babo, Wau Wau, Nonno etc. 

Unser brauner, so gemütlicher und immer fröhlicher Labradorfreund Dusty strahlt viel Ruhe und Seinsqualität aus. Diese ist ansteckend. So kann sich nun auch Luca etwas verweilen und seine angespannte hohe Stimme senkt sich in die tieferen Bereiche, Sprechen wird dadurch jetzt möglich. Während der freien Improvisationenals Partnerspiel liegt Dusty unter dem Klangbett und hört der Felltrommel und dem Gong zu. Wird es allzu lebendig, hebt er den Kopf und schaut, was los ist. Immer wieder nähert sich der liebenswürdige Knabe und berührt meine Lippen. Ebenso mache ich es auf den seinen und wische ihm mit dem Schnupftuch den Speichel ab. Er wird lernen, auch dies zu kontrollieren, wenn er „Herr“ seines Mundes wird.

Die Stunden enden mit einer herzlichen Umarmung, Luca legt sich auf den Rücken des Hundes.

Ciao Dusty, ciao Luca!

Literatur

Frohne-Hagemann, Isabelle (1990). Integrative Mu- siktherapie als psychotherapeutische, klinische und persönlichkeitsbildende Methode. In Isabelle Frohne-Hagemann (Hrsg.), Musik und Gestalt, S. 99-120.

Lutz Hochreutener, Sandra (2009). Spiel-Musik-Thera- pie. Methoden der Musiktherapie mit Kindern und Jugendlichen. Göttingen: Hogrefe.

Schumacher, Karin (2014). Musiktherapie und Säug- lingsforschung: Zusammenspiel. Einschätzung der Beziehungsqualität am Beispiel des instrumentalen Ausdrucks eines autistischen Kindes (Reihe 6: Psy- chologie). Bern: Peter Lang/Internationaler Verlag der Wissenschaften.

Winnicott, Donald Woods (1985). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta.

 

Wolfgang Fasser

Ausbildung zum Physiotherapeuten, später zum Musiktherapeuten. Mitbegründer der „Fraternità di Romena“ (Toskana). Leiter eines Begegnungszentrums und einer Praxis in Quorle/Poppi (Toskana). Ausbildungsprojekt in Afrika. Seminartätigkeit in der Schweiz und in Deutschland.

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